Der Fachverband
Das Verbandsgeschehen im Laufe des Berichtsjahres 1910, sowohl in Wiesbaden als auch in Berlin, verlief ohne bemerkenswerte Höhepunkte. Dem jungen Wiesbadener Verband, ebenso wie der Berliner Vereinigung, fehlte der Schwung der ersten Jahre. Die Mitgliederzahlen dümpelten vor sich hin und erreichten kaum das halbe Hundert. Es lag anscheinend in erster Linie auch an der Tatsache, dass sich wegen der Namensgebung des Wiesbadener Verbandes bei dessen Gründung, zu wenige Kollegen der Theater im Reichsgebiet angesprochen fühlten. Nur die bekannten Theater der Großstädte und fürstlichen Höfe jener Zeit hatten ja die Mittel, sich einen Diplom-Ingenieur oder Technikum-Ingenieur als Technischen Direktor oder Leiter leisten zu können. In den kleinen Stadt- und Privattheatern wurde der Betrieb meist von einem handwerklich versierten Bühnenmeister, in selteneren Fällen von einem Beleuchtungsmeister, technisch verantwortlich und gesetzlich anerkannt, geführt. Diese waren fachlich stets hervorragend, aber was die darüber hinausgehende Allgemeinbildung betraf ausschließlich auf die Belange des jeweiligen eigenen Hauses eingestellt. Hinzu kam eine damals verbreitete Eigenbrötelei, weil man sich keinesfalls eine Positionskonkurrenz im eigenen Betrieb heranziehen wollte, was bei den bestehenden Vertragsverhältnissen durchaus verständlich war. Aus dieser Gesamteinstellung erwuchs auch das Mißtrauen gegenüber jeglichen Studierten in den Direktionspositionen der großen Theater, zu denen man Distanz wahrte, weil man glaubte, mit deren Wissen nicht mithalten zu können. Genau diese Verhaltensweisen der nur handwerklich vorgebildeten Meister wurden aber seitens der Gründungsväter, besonders des Wiesbadener Verbandes, zu wenig beachtet. Die angestrebten Wünsche und Ziele, welche immer wieder beschworen wurden, verhallten deshalb ungehört, weil die Anzusprechenden in ihren Betrieben wegen Nichtabonnements der betreffenden Zeitschriften nicht erreicht wurden.Bei der Berliner Vereinigung gab es im Berichtsjahr einige Veränderungen im Vorstand. Während Vorsitzender und Schriftführer wie bisher ihre Funktionen weiter ausübten, wurde Karl Möser von der königlichen Hofoper Unter den Linden zum neuen Kassierer ernannt und als neuer stellvertretender Vorsitzender fungierte Georg Kühn vom Neuen Schauspielhaus Berlin. Als Neuerung wurde berichtet, dass von 1909 ab die Deutsche Theaterzeitschrift Berlin als offizielles Mitteilungsblatt von der Vereinigung benutzt wurde, um die Mitglieder über das Verbandsgeschehen zu informieren. Auch das Jahr 1910 ging als wenig effektiver Zeitabschnitt in die Verbandsgeschichte der beiden noch getrennt agierenden Vorläufer der heutigen Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft e.V. ein.
Theatergeschichte
Mehrere der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandenen Theaterbauten im deutschsprachigen Raum Europas waren durch die rasante technische Entwicklung seit der Jahrhundertwende bereits wieder betriebs- und sicherheitstechnisch überholungsbedürftig. Insbesondere nach den verheerenden Theaterbränden des vorangegangenen Jahrhunderts wurden zunächst nur in Preussen, wenige Jahre später auch in den anderen deutschsprachigen Ländern, Bau- und Betriebsvorschriften für Theater und sonstige Veranstaltungsräume erlassen. Dieselben wurden in Preussen bereits 1904 überarbeitet und dabei verschärft. Ein Theater, welches unter diesen Aspekten besonders zu leiden hatte und deshalb hier als Beispiel erwähnt werden soll, war die nach einem vernichtenden Brand 1843/44 von C. F. Langhans d.f. wieder neu erbaute Knobelsdorff’sche Lindenoper, das Königliche Opernhaus, in Berlin. Wegen bestehender denkmalschützerischer Auflagen war aber Langhans derart in den planerischen Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt, dass eine der Zeit entsprechende moderne Bühnentechnik nicht installiert werden konnte, was besonders einen fehlenden Schnürboden betraf. Das durchlaufende Dach des historischen Bauwerks ließ die notwendige Erstellung eines Bühnenturmes zur Unterbringung desselben einfach nicht zu.Aufgrund der oben genannten neuen Bauvorschriften mussten aber bereits 1904 Rettungsgalerien und Nottreppen als Flucht- und Rettungswege für die Mitwirkenden und Zuschauer an- und eingefügt werden, was die Aussenansicht des Gebäudes völlig verunstaltete. Aber nicht zuletzt wegen den von künstlerischer Seite immer dringender werdenden Forderungen nach einer zeitgemäßen Bühnentechnik mit einem regulären Schnürboden.So wird, allen architektonischen Widersprüchen zum Trotz, zur Unterbringung des notwendigen Schnürbodens, der Umbau für einen Bühnenturm im Jahr 1910 durchgeführt. Das heutige Große Haus der Städtischen Bühnen Freiburg i. Brsg. wird in diesem Jahr erbaut und in Betrieb genommen.Das Stadttheater Klagenfurt (Kärnten) wird von den Architekten Fellner + Hellmer mit 757 Plätzen erbaut und am 22. September 1910 eröffnet. In der Rotenturmstraße 20 in Wien werden 1910 von den Architekten Schweinburger und Schwadron die zum Theater in der Josefstadt gehörenden Kammerspiele in Betrieb genommen.Ein anderes, wichtiges Ereignis des Jahres 1910 ist an dieser Stelle erwähnenswert. Laut testamentarischer Verfügung der Schauspielerin Clara Ziegler, München wird die Clara-Ziegler-Stiftung dortselbst ins Leben gerufen. Diese Stiftung, heute als Deutsches Theatermuseum – München weitergeführt, bildete die Grundlage für eine der umfangreichsten Sammlungen deutscher und internationaler Theatergeschichte aller Völker und Zeiten.
Das Umfeld
In der Außen- und Innenpolitik des Deutschen Reiches unter Kaiser Wilhelm II. (1888-1918) gibt es keine spektakulären Ereignisse von irgendwelcher Tragweite im Jahr 1910 zu berichten. Der Englische König Eduard VII. bemerkte als Bonmot über seinen Neffen Wilhelm II. Folgendes:
Mein Neffe William muss immer wie ein Pfau radschlagen; kann er es nicht, so fühlt er sich unterlegen und unglücklich.
Eine recht zutreffende Charakterstudie des damaligen Deutschen Monarchen, so wurde er von den meisten in- und ausländischen Politikern beurteilt. Die deutsche Industrie hatte sich im Laufe der Jahre zu einem damals schon beachtlichen Umfang von Halb- und Fertigwaren mit fast siebeneinhalb Milliarden Mark Umsatz aufgeschwungen. Das deutsche Volksvermögen stieg jährlich um drei bis vier Milliarden Mark und lag damit an der Spitze vergleichbarer Industriestaaten wie England und Frankreich, was dem Deutschen Reich nicht gerade freundliche Zuneigung dieser Staaten einbrachte, zumal die deutsche Wirtschaft sich vehement auf den Weltmärkten etablierte. Man wollte unbedingt zur Weltmacht werden und eine Weltmarkt beherrschende Stellung erreichen.Der technische Entwicklungssektor sparte das Jahr 1910 mit wesentlichen, die Welt verändernden, Erfindungen weitgehendst aus. Lediglich die Luftfahrtentwicklung machte seit 1909 in Europa, und hier speziell in Frankreich, davon eine Ausnahme. Das herausragendste Ereignis dieser Entwicklung, welches die zukünftige Bedeutung des Flugzeuges als wichtigen Wirtschaftsfaktor vorausahnen ließ, war der Flug Louis Blériots (1872-1936) über den Ärmelkanal, welcher am 25. Juli 1909 stattgefunden hatte, und der in seiner Auswertung in den darauf folgenden Jahren richtungsweisend für den kommenden Flugzeugbau werden sollte.